Atelier Rainer Nepita
Atelier Rainer Nepita

Michael Hübl:

Rainer Nepita geht systematisch vor. Er ist kein Botaniker, er heißt nicht Linné, ihm liegt nicht
daran, das was er sieht zu klassifizieren, in eine Ordnung aus Stamm- und Untergruppen, Hauptund
Nebenlinien zu überführen. Gleichwohl folgt Nepita einer Systematik. Einer sehr einfachen
Systematik sogar. Ihre Einfachheit bleibt zunächst verborgen, denn Nepita verrät das, was er sieht,
nicht an die Ordnung, die er aufgestellt hat. Das was er sieht: Das sind Natureindrücke – Blüten,
Gebüsch, Blattwerk, Ranken, Farne, vielleicht krautig wuchernder Wegerich oder staksiger
Schachtelhalm, sicher aber Gräser. Gräser, wie er sie auf beiden Seiten des Badbergs gezeichnet
hat, jener Gegend, die nicht zuletzt einem Zyklus von Arbeiten den Namen gab.

Rainer Nepita zeichnet nach der Natur, Rainer Nepita zeichnet Gräser: Dieses Faktum verleitet zu
gedanklichen Kurzschlüssen, und diese provozieren Missverständnisse. So läge es nahe, zwischen
dem Naturinteresse, das Nepita entwickelt hat, und der Stadt Nürnberg, in der er zur Schule ging,
eine Verbindung herzustellen. Immerhin entstand dort im Jahr 1503 „Das große Rasenstück“
von Albrecht Dürer, das Eingang in die Kaiserliche Schatzkammer fand und heute in der Wiener
Albertina aufbewahrt wird. Dürer hat die Pflanzen auf diesem Aquarell mit einer lupenreinen Exaktheit wiedergegeben, die es Botanikern neuerdings erlaubte, eine entsprechende Samenmischung
zusammenzustellen. Die Stadt Nürnberg hat dieses Saatgut in Tütchen abfüllen lassen,
um es für die Bundesgartenschau 2005 und die Fußballweltmeisterschaft 2006 als Werbeträger
zu benutzen. Inhalt: 30 Prozent Rispengras, 42 Prozent Knäuelgras, 15 Prozent Straußgras.
In kleineren Anteilen sind enthalten: Gänseblümchen, Breitwegerich, Schafgarbe, Löwenzahn,
Bibernelle sowie 0,5 Prozent Ehrenpreis. Genau wie bei Dürer.
Aber es war nun just nicht das Werk Albrecht Dürers, das bei Rainer Nepita so etwas wie eine
ästhetische Initialzündung bewirkte. Ebenso wenig ist Nepitas systematische Arbeitsweise darauf
ausgerichtet, Gewächse dermaßen präzise wiederzugeben, dass sie jederzeit identifizierbar sind.
Den Anstoß, die noch vagen eigenen künstlerischen Absichten in eine Richtung zu lenken,
gab damals in Nürnberg nicht Dürer, sondern eine Ausstellung mit japanischer Malerei. Und die
Systematik, mit der Nepita heute vorgeht, hat er nicht einem Biologie-Lehrbuch entnommen,
sondern aus den Maximen abgeleitet, die für die ostasiatische Malerei zentrale Bedeutung haben.
Eine dieser Maximen ist das Streben nach Einfachheit. Was auch immer ein Maler oder Kalligraph
zu Papier bringt – es soll vollkommen frei sein vom Makel des Überschüssigen und Überflüssigen.
Kein zuviel, nirgends: Für dieses ästhetische Ziel hat sich Nepita seit jenen Tagen begeistert.

Die Reihe der Anekdoten, die sich um die Maxime der Einfachheit ranken, ist lang, das Erzählmuster
fast durchweg gleich: Der Meister ist die Ruhe selbst, tut scheinbar nichts, beinahe sieht
es so aus, als sei er faul, ein Scharlatan. Dabei arbeitet er im Stillen. Er konzentriert sich auf das
darzustellende Objekt. Er ringt darum, dessen innerstes, ureigentliches Wesen in sich aufzunehmen,
um es dann mit einem malerischen Schwung, gleichsam schlagartig zu entäußern.
Soweit dieser Typus von Anekdote, wie er oft genug über die großen Zen-Maler kolportiert wurde.
Die Anekdoten von den abwartenden und plötzlich losmalenden Künstlern sind Ausdruck einer
Philosophie des Einklangs und der Harmonie. Freilich ist in diesen bewunderungswürdigen Gesten
eine Tendenz zum Artistischen angelegt: Man staunt, wie mit einem Streich eine Kirschblüte aufs
Blatt gezaubert, ein Kiefernhain hingetuscht wurde. Aber selbst wenn der Aha-Effekt ausbleibt,
liegt doch in jedem Fall ein fertiges, abgeschlossenes Ergebnis vor, das einen hohen Grad an
Gültigkeit beansprucht: Die ostasiatischen Meister wollen in ihren Bildern mit momenthafter Treffsicherheit
die Essenz eines Gegenstands, eines Lebewesens oder einer Situation sichtbar machen.

Abbildung aus „Kocho Gafu“ 1834
von Ueda Kocho Galerie Sorko, Nürnberg, 1974

Das ist eine gänzlich andere Herangehensweise, als sie sich in Europa und später in den
europäisch geprägten Gesellschaften durchsetzte. Bevor die Aufbruchsignale der Moderne
laut wurden, strebte man im Abendland nach realistischer Genauigkeit und wusste sich in
dieser Hinsicht einig mit den Naturwissenschaften. Der Anatomiesaal als der Ort, an dem der
menschliche Körper seziert wird, stellt gewissermaßen - im doppelten Wortsinn des Begriffs -
die Schnittstelle des gemeinsamen Bemühens von Kunst und Wissenschaft dar, den Dingen
bis in die letzte Faser auf den Grund zu gehen.

Wohlgemerkt: Das europäisch-westliche Vorgehen ist ein Bemühen, ein Nachfassen, Prüfen, permanentes
Neuansetzen, während ein Maler, der etwa aus dem Geist des Daoismus heraus wirkt,
sich selbst zum Medium eines Prozesses macht, bei dem das Wahrgenommene wie in einer Black
Box umgewandelt wird. Das Produkt dieses Transformationsprozesses manifestiert sich als malerischer
Gestus. In ihm ist das Gesehene zusammengefasst. Die westlichen Künstler hingegen, die in
der Tradition der Renaissance stehen, verfahren Schritt um Schritt, Punkt um Punkt analytisch.
Dürers „Großes Rasenstück“ von 1503 ist ein nachgerade paradigmatischer Beleg dieser Methode.
Bei Rainer Nepita kommt beides zusammen. Sein Badberg-Zyklus, aber auch frühere Arbeiten
geben schon beim ersten Hinsehen zu vermuten, dass eine Affinität zur Kunst aus Fernost besteht.
Doch Nähe heißt nicht Anpassung. Nepita hält sich durchaus an die Erkenntnismöglichkeiten, die
seit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelt und fortentwickelt wurden, bis ihre wissenschaftliche
Komponente in der Konkreten Kunst auf einige formale Grundbegriffe und Axiome
fokussiert wurde. Ihr, der Konkreten Kunst, stehen Nepitas Arbeiten im weitesten Sinne insofern
nahe, als die Elemente seiner Bilder im einzelnen nachprüfbar und belegbar sind. Die malerischen
Gesten und Abbreviaturen, mit denen der Künstler arbeitet, wollen weder – wie etwa im Informel
– bloßen spontanen Impulsen entspringen, noch – wie etwa bei den chinesischen Tuschemalereien –
endgültig pointierte Setzung sein. Die schlingernden, sich verschlingenden, dann schnurgeraden,
hier sich verknäuelnden, dort sich lösenden Linien auf den Bildern Nepitas haben zwar ihren
Ursprung in der Natur, die unmittelbare Ausgangsbasis ihrer zeichnerisch-malerischen Verwirklichung
liegt jedoch in den Arbeitsbüchern, die Rainer Nepita im Laufe der Jahre angelegt hat.
Diese Bücher dienen ihm als Studienalben. In ihnen ist mit minutiösem Strich Nepitas Auseinandersetzung
mit der Natur dokumentiert. Auf den einzelnen Seiten finden sich die spezifischen
Gewächse wieder, denen der Künstler unter anderem während seiner Wanderungen im Naturschutzgebiet
Badberg begegnet ist. Zittergras und Färberwaid, Orchideen, Küchenschellen,
Schlüsselblumen und vieles mehr wächst dort auf den Höhen des Kaiserstuhls. Etliches davon hat
Nepita mit dem Graphitstift in seinen Büchern zeichnerisch festgehalten.

Auf diesen Fundus greift er bei seinen Malereien zurück. Jetzt kommt auch die Systematik ins
Spiel. Denn statt augenblicklichen Stimmungen oder Vorlieben zu trauen, verlässt sich Nepita bei
der Wahl seiner Motive lieber auf den gestalterischen Reichtum der Regelmäßigkeit. Das bedeutet:
Er arbeitet konsequent seine Alben durch. Er schlägt eines der Zeichenbücher auf, entscheidet sich
für ein Detail, das er – vergrößert – auf die Leinwand übertragen möchte, wechselt zu nächsten
Seite, wählt nun wieder einen Ausschnitt, den er ebenfalls – diesmal nur nicht mit dem Bleistift,
sondern mit Ölkreide oder Pinsel – auf die Leinwand überträgt. So setzt sich der Arbeitsprozess
von einer Seite zur nächsten fort. Wenn Nepita dabei auf Formen stößt, die ihm gerade nicht
behagen, macht er dennoch genau mit dieser Seite weiter – selbst wenn er meint, die vorhandenen
Elemente passten nicht zu dem, was bereits auf der Bildfläche steht. Und wenn ein Bild abgeschlossen
ist, fährt Nepita mit der Seite fort, die nun als nächste dran ist. So arbeitet er sich Schritt
für Schritt voran; hat er das Ende des Buches erreicht, beginnt er von neuem mit Seite 1, Seite 2,
Seite 3 ... – wie bei einer Endlosschleife oder, nach heutigem Sprachgebrauch, wie bei einem Loop.

Dass Künstler Bilder, die eine in sich geschlossene Einheit darstellen, aus Elementen aufbauen,
die unterschiedlichen Zusammenhängen entnommen sind, ist nicht ungewöhnlich. Bei Dürers
„Rasenstück“, um noch einmal auf dieses Blatt zurückzukommen, geht man davon aus, dass es
im Atelier, „vielleicht unter Zuhilfenahme einzelner, separat studierter Gräser“ (1) entstanden
ist. Ein weiteres, jüngeres Beispiel für dieses Baukastenprinzip wäre etwa die „Böhmische Landschaft“,
die Caspar David Friedrich um 1810/11 malte. Bei dem Gemälde, das sich gegenwärtig
im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart befindet, griff Friedrich auf mindestens sieben Zeichnungen
zurück, die er in einem Zeitraum von gut zehn Jahren mal hier, mal dort gefertigt hatte: Eine
Distel im Vordergrund lässt sich auf einer Zeichnung von 1799 nachweisen, bei den beiden
mittig platzierten Bäumen hat Friedrich für den linken eine Vorlage von 1807, für den rechten
eine von 1809 benutzt (2). Rainer Nepitas Verfahren ist diesen aus der Kunstgeschichte
bekannten Kombinationen und Kompositionen nur äußerlich verwandt. Allein die Systematik,
die seiner Arbeit zugrunde liegt, gibt zu erkennen, dass seine Intentionen über das Herstellen
eines visuellen Sinnzusammenhangs und eines in sich stimmigen Bildgefüges hinausreichen.
Indem Nepita systematisch arbeitet, verzichtet er auf Teile seiner, wenn man so will:
Verfügungsgewalt über das Bild. Das individuelle gestalterische Belieben wird eingeschränkt
zugunsten eines Parameters außerhalb des eigenen Wollens.

Als Rainer Nepita vor vierzehn Jahren im Museum Ritterhaus Offenburg und im Kunstverein
Engen Arbeiten auf Leinwand und Papier zeigte, stand über den beiden Ausstellungen die
gleichsam spiegelbildlich gegliederte Aussage „Das Eigene im Anderen – das Andere im Eigenen“.
Dieses Motto hatte der Künstler bereits bei früheren Gelegenheiten formuliert (3); spätestens seit
einem Vortrag, den er 1992 in der Ottersweierer Galerie E.+E. Schneider hielt, fokussieren die
künstlerischen Grundgedanken Nepitas in dieser verknappten Feststellung einer Interdependenz
zwischen Ich und Nicht-Ich. In den Bildern des Badberg-Zyklus hat Nepita bei der wechselseitigen
Verknüpfung von Subjektivität und Objektivität einen zusätzlichen Schritt unternommen. Stellt
das Zeichnen vor der Natur bereits eine Relativierung der eigenen künstlerischen Absichten und
Regungen dar (weil man nicht einfach ‚drauflos zeichnen kann, sondern Bezug nehmen muss auf
das botanische Gegenüber) und bedeutet die Anwendung einer Systematik, dass die freie zeichnerische
und malerische Entfaltung an Grenzen stößt (weil sich der Künstler an feste Vorgaben
halten muss), so kommt beim Badberg-Zyklus ein drittes Moment hinzu: Statt bei der Wahl der
Farben seinem subjektiven Empfinden nachzugeben, hat Nepita die objektiven Festlegungen eines
Farbenkreises zur Referenzgröße seiner Arbeit gemacht.

Bei seiner Ausstellung im Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg hat Nepita
zwar nicht sämtliche Abstufungen berücksichtigt, aber alle Arbeiten des Badberg-Zyklus,
die dort gezeigt wurden, rekurrierten auf den Farbenkreis, auf den der Maler seine Arbeiten
ausgerichtet hat. Allerdings waren die Bilder nicht in der chromatischen Reihenfolge gehängt,
die man in prismatischer Abfolge erwarten würde: von Gelb über Grün zu Blau, Violett, Rot,
Orange, Gelb...Die Sequenz wird aufgebrochen, aufgelockert, um jeden Anschein von Didaktik
zu vermeiden, denn Nepita arbeitet nicht um der Systematik willen systematisch. Eine Regel
zu befolgen meint bei Nepita das Eigene mit dem Anderen, sozusagen das Innere mit dem
Externen zu konfrontieren und jenes – im ursprünglichen Wortsinn – ambivalente Wechselverhältnis
herzustellen, das Nepita mit seinem Motto anspricht.

Die Aussage, die er dort trifft, ist elliptisch. Das Eigene im Anderen – Das Andere im Eigenen –
das ist ein Satz ohne Prädikat. Wie könnte das passende Verb aussehen? Verlieren? Entdecken?
Das Eigene im Anderen verlieren – Das Andere im Eigenen entdecken? Oder umgekehrt? Das
Eigene im Anderen erfahren – das Andere im Eigenen aufheben? Und wie aufheben? Beseitigen?
Bewahren? Überhöhen? Nepita lässt diese Frage offen, so wie er offen lässt, von welchen
Pflanzen die Kürzel auf seinen Bildern herrühren. Zwischen dem Eigenen und dem Anderen
besteht eine offene Resonanz, die ein höchst präzises Erkenntnisinstrument darstellt. Denn das
eine lässt sich vom anderen nicht trennen – so wie der Einzelne immer Teil eines Ganzen ist, und
sei es die menschenleere Welt; so wie Sprache auf Resonanz angelegt ist, und ruhe sie in der Stille
der Verschwiegenheit. Nepita zeichnet Teile der sichtbaren Welt. Dabei durchläuft seine Arbeit
mehrere Abstraktionsebenen, so dass sich aus dem Zeichnen heraus Zeichen bilden.

Zeichen aber entwickeln ihre Eigendynamik Nepita bindet diese Dynamik an seine Person als
Maler und zeigt dabei, wie sich das, was einmal aus einer ursprünglichen, direkten Wahrnehmung
gewonnen wurde, à la longue verselbständigt: Bei den Kürzeln auf der Leinwand nimmt er
zwar jedes Mal Maß an den Zeichnungen in seinen Arbeitsbüchern, aber irgendwann gehen
diese Kürzel wie von selbst von der Hand. Das Besondere liegt nun darin, dass Nepita nicht die
eigene Individualität ausspielt, sondern deutlich werden lässt, wie eine scheinbar ganz eigene,
unverwechselbare Handschrift selbst Faktoren, Einflüssen, Prozessen unterworfen ist, die sich bis
zu einem gewissen Grad der Kontrolle entziehen – es sei denn man unterwirft sich einer quasi
totalitären Rigidität. Im Eigenen, könnte man sagen, verwirklicht sich immer auch ein Anderes und
dieses Andere hält Rainer Nepita in seiner Kunst präsent (4).

Anmerkungen: (1) Heinz Wiedauer: Das Große Rasenstück, in: Klaus Albrecht Schröder und Marie Luise
Sternath (Hg.): Albrecht Dürer. Katalog zur Ausstellung in der Albertina, Wien 2003, S. 270. (2) vgl. Helmut
Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen.
München 1973, S. 314. (3) s. Rainer Nepita. Das Eigene im Anderen – das Andere im Eigenen. Katalog
zur Ausstellung im Museum Ritterhaus Offenburg und im Kunstverein Engen 1995/1996. Offenburg 1995, S.
19. (4) Der Text ist eine minimal modifizierte Fassung der Eröffnungsrede der Ausstellung „Badberg-Zyklus“ im
Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg am 11. Dezember 2005.

 

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